Wenn der Vater fehlt

Wenn der Vater fehlt

Matthias Franz

Viele Kinder wachsen heute weitgehend ohne männliche Bezugsperson auf. Väter sind in den frühen Lebensjahren eines Kindes oft nur wenig präsent, der Männermangel in Kindergärten und Grundschulen ist offensichtlich. Der Anteil der in Einelternfamilien aufwachsenden Kinder hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten auf knapp 20 Prozent verdreifacht. Die neue Vaterlosigkeit hat Folgen – für die Entwicklung der Kinder, aber auch für die betroffenen Mütter.

Kalifornien hat gewählt. Arnold Schwarzenegger tritt nicht nur zum mittlerweile dritten Mal als Terminator an, er erfüllt als Gubernator auch außerhalb der Kinos die Bedürfnisse vieler seiner Wähler nach einem starken (Landes)Vater. Dass ein solcher medialer Kurzschluss in die politische Wirklichkeit hinein möglich ist, ist sicher nicht nur ökonomischen und machtpolitischen Konstellationen oder der effizienten Karriereplanung Schwarzeneggers zuzuschreiben. Es lässt auch auf mächtige, kollektive Fantasien und Bedürftigkeiten schließen, die in den Schwarzeneggerfilmen bedient werden. Auch andere Filmproduzenten haben mit epischen Mehrteilern wie Krieg der Sterne oder Matrix die unbewusste, kindliche, vorwiegend männliche Sehnsucht nach einem idealisierten Vater kommerziell höchst erfolgreich abgeschöpft.

In all diesen Filmen erfüllen mediale Platzhalter und Projektionsfiguren als „Helden“ latente, auf einen starken und fürsorglichen Vater bezogene Bindungswünsche: Jungen oder junge Männer, die ihren Vater verloren haben oder erst gar keinen hatten („John Connor“, „Luke Skywalker“, „Neo“), treten gegen eine allgegenwärtige, parasitäre, umfassend mächtige Maschinenwelt oder das Böse schlechthin an. Diese traumatischen Ausgangsszenarien sprechen unbewusste Ängste an, die am ehesten einer hilflosen kleinkindlichen Erlebnisperspektive zugeordnet werden können. Der Umgang mit diesen Ängsten und deren Überwindung mithilfe eines rettenden Dritten ist das heimliche Thema dieser Filme. Einfühlsame, starke väterliche Förderer helfen den Jungen dabei, sich und die Welt vor der endgültigen Beherrschung durch die scheinbar allmächtigen Maschinen des Bösen zu retten und selbst dabei zum Mann zu werden. Diese Vaterfiguren zeichnen sich neben ihrer männlichen Stärke, die sich im Kampf gegen „das Böse“ durchaus auch einmal zur Brutalität steigert, durch Weisheit, Bereitschaft zur Anleitung, Einfühlung sowie brillante technische Fähigkeiten aus. Sie stellen so den Sieg über die mächtigen Verfolger und die Initiation des Jungen in die Männerwelt sicher.

Diese Filme spiegeln die unbewussten Beziehungswünsche vieler Menschen im Alltag und verweisen auf ein väterliches Defizit in unserer Gesellschaft. Insbesondere männliche Kinogänger erkennen in diesen Plots ihre Ängste und ihre Vaterbedürftigkeit wieder. Denn in der Tat spielt sich, was die Präsenz der Väter angeht, ein stilles Drama beachtlichen Ausmaßes bei uns ab.

Das Fehlen der Väter ist dabei kein wirklich neues Phänomen. Infolge des Zweiten Weltkrieges und der zivilisatorischen Katastrophe der Naziherrschaft starben allein fast fünf Millionen deutsche Soldaten. Sechs Jahre lang kamen jeden Tag 2500 Männer – Brüder, Söhne, Ehemänner und eben auch Väter – ums Leben. Sechs Jahre lang starb also jeden Tag eine ähnliche Anzahl Menschen wie am 11. September 2001 in New York. Darüber hinaus befanden sich Millionen deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft, und die, die zurückkehrten, waren häufig so schwer traumatisiert, dass sie in ihren Familien über Jahre hinweg Fremde blieben. Für ein Viertel der Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit in Deutschland bedeutete dies eine Kindheit ohne Vater, ungezählte andere hatten eine gestörte Beziehung zu einem kriegstraumatisierten Vater. Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern, der diese Problematik thematisiert, treibt nicht von ungefähr unserem Bundeskanzler und vielen anderen „gestandenen“ Männern die Tränen in die Augen.

Die psychischen Folgen der Vaterlosigkeit sind nur in Umrissen bekannt und wurden in Deutschland kaum systematisch erforscht. Das biografische Echo dieser traumatischen Erfahrung erfährt erst in allerletzter Zeit verstärktes wissenschaftliches Interesse. Eine psychosomatisch-epidemiologische Langzeitstudie an der Mannheimer Normalbevölkerung, in der auch der Langzeitverlauf psychischer und psychosomatischer Erkrankungen untersucht wurde, erbrachte als wesentliches Ergebnis, dass die „Kinder des Krieges“ (die Geburtsjahrgänge 1935 und 1945), denen in den ersten sechs Lebensjahren der Kontakt zum Vater fehlte, noch über 50 Jahre später ein deutlich höheres Risiko für psychische Störungen aufwiesen als die Kriegskinder derselben Jahrgänge, die einen konstanten Kontakt zum Vater hatten. Aus psychoanalytischer Sicht verdeutlicht Hartmut Radebold in seinem Buch Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen diese Zusammenhänge anhand eindrucksvoller Fallgeschichten.

In Deutschland herrscht seit 1945 Frieden. Dennoch erleben sich viele Kinder als vaterlos. Der Vater ist in den frühen Lebensjahren eines Kindes nur wenig präsent. Es erlebt in vielen Fällen fast ausschließlich Frauen in seiner direkten Umgebung: Der Männermangel in Kindergärten, aber auch in Grundschulen ist offensichtlich und besonders für viele Jungen problematisch. Die Väter sind berufsbedingt abwesend. Haben sie ihre Arbeit verloren, fühlen sie sich häufig sozial abgewertet und stehen aufgrund ihrer Probleme ihren Kindern nur eingeschränkt als einfühlsamer Entwicklungspartner zur Verfügung. Trotz öffentlich eingeforderter und propagierter neuer Rollenleitbilder ist vielen in ihrem Rollenbild und Selbstverständnis verunsicherten Männern nicht klar, wie wichtig ihre spürbare Gegenwart für eine gesunde Entwicklung ihrer Kinder ist. Untersuchungen zeigen, dass Väter – unabhängig davon, ob die Mütter zu Hause oder berufstätig sind – ihre Kinder seltener versorgen und betreuen als Mütter. Zwar engagieren sich Männer heute mehr für ihre Kinder als frühere Vätergenerationen, doch die Elternzeit nach der Geburt eines Kindes wird nach wie vor extrem selten von Vätern in Anspruch genommen.

Dabei ist der Vater für die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung. Nach der Geburt des Kindes fällt es einer Frau, die von ihrem Mann entlastet wird, leichter, eine sichere Bindung zum Säugling aufzubauen. Wie die Mutter kann auch der Vater auf die Entwicklungs- und Bindungsbedürfnisse des Kindes einfühlsam und fürsorglich eingehen.

Im Alter von ein bis zwei Jahren, wenn das Kind beginnt, sich aus der Abhängigkeit der frühen Mutter-Kind-Beziehung zu lösen, bietet ein einfühlsamer Vater dem Kind, das zwischen Selbständigkeitsbestrebungen und Verlustängsten hin- und hergerissen wird, eine stabile Beziehungsalternative zur Mutter.

Beim anschließend anstehenden Reifungsschritt – im Alter zwischen etwa drei und sechs Jahren – ist der Vater als männliche Identifikationsfigur und als Liebespartner der Mutter vor allem für die Entwicklung einer stabilen, selbstbewussten sexuellen Identität des Jungen von prägender Bedeutung. Aber auch für die Entwicklung und Festigung der sexuellen Identität des Mädchens ist der Vater von hoher Wichtigkeit.

Die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung und die psychische Gesundheit seiner Kinder im späteren Erwachsenenleben wird auch durch Langzeitstudien bestätigt. Der kanadische Epidemiologe Paul R. Amato oder auch die Psychologin Judith S. Wallerstein haben in ihren Untersuchungen für Kinder aus Scheidungsfamilien unter anderem ein erhöhtes Risiko für spätere Beziehungskonflikte, Scheidung der eigenen Ehe und eine allgemein verringerte Lebenszufriedenheit festgestellt. In Fällen, in denen vor einer Trennung oder Scheidung in der elterlichen Beziehung ein chronifizierter, massiv ausgetragener Partnerkonflikt bestand, scheint allerdings die andauernd konflikthafte Elternbeziehung und weniger die Trennung vom Vater einen negativen Einfluss auf die spätere Entwicklung des Kindes zu haben.

Viele Kinder wachsen heute also mit einem Defizit an emotional spürbarer Väterlichkeit auf. In besonderer Weise verdichtet sich diese Problematik in der wachsenden Anzahl von Einelternfamilien. Derzeit leben in Deutschland etwa drei Millionen Alleinerziehende mit Kindern – über 80 Prozent von ihnen sind Mütter. 41 Prozent der alleinerziehenden Mütter sind geschieden, 15 Prozent leben vom Partner getrennt, 37 Prozent sind ledig. Der Anteil der in Einelternfamilien aufwachsenden Kinder hat sich in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten auf heute knapp 20 Prozent verdreifacht. In manchen urbanen Zentren der USA ist die Quote bereits erheblich höher.

Alleinerziehende Mütter sind mehrfachen Belastungen ausgesetzt. Armut, soziale Randständigkeit, Rollenbrüche und beeinträchtigte Bildungs- und Berufsmöglichkeiten sind bei alleinerziehenden Müttern deutlich häufiger als bei verheirateten. Auch weiterbestehende Konflikte mit dem Expartner, Selbstzweifel und – oft nicht artikulierbare – Schuldgefühle dem Kind gegenüber stellen zusammen mit den wirtschaftlichen Unsicherheiten häufig eine Überforderung der alleinerziehenden Mütter dar und führen zu einer deutlich überdurchschnittlichen psychischen und psychosomatischen Belastung. In Studien aus dem angelsächsischen Sprachraum und aus Skandinavien wurde bei alleinerziehenden Müttern, zum Teil unabhängig vom sozioökonomischen Status, ein erhöhtes Risiko für verschiedene – auch körperliche – Erkrankungen sowie psychische und psychosoziale Beeinträchtigungen und beispielsweise auch ein erhöhtes Risiko für depressive Störungen und Suchtprobleme gefunden. Dies ist in vielen Fällen unabhängig von der Höhe der Sozialleistungen für alleinerziehende Mütter.

In einer eigenen Untersuchung, der Düsseldorfer Alleinerziehendenstudie, wurden über 500 alleinerziehende Mütter und ihre Kinder im Rahmen der Schuleignungsuntersuchungen befragt. Auch hier war der Sozialstatus (Einkommen, Bildung, Sozialhilfe) der alleinerziehenden Mütter deutlich erniedrigt, die psychische Belastung – besonders die Depressivität – im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant erhöht. Besonders belastet waren alleinerziehende Mütter, die ihr Kind ohne die Unterstützung einer anderen Person großzogen, sowie jüngere und arme alleinerziehende Mütter.

Aufgrund dieser Mehrfachbelastungen sind alleinerziehende Mütter oft selbst unterstützungsbedürftig und nicht in der Lage, ihrem Kind die notwendige Zuwendung zu geben. Die chronische Überforderung des einen und das Fehlen des anderen Elternteils kann sich negativ auf die Entwicklung der betroffenen Kinder auswirken. In zahlreichen internationalen Studien wurden bei Kindern alleinerziehender Mütter vermehrt Schulleistungsstörungen, ein beeinträchtigtes Selbstwerterleben, aggressive Verhaltensstörungen (Jungen) und sozialer Rückzug sowie Frühschwangerschaften (Mädchen) beschrieben. In der Düsseldorfer Studie zeigte sich ein starker Zusammenhang zwischen der Depressivität alleinerziehender Mütter und Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder. Besonders Jungen scheinen mit dem Fehlen des Vaters nicht gut zurechtzukommen. Sie litten deutlich stärker unter Verhaltensstörungen als Jungen aus Zweielternfamilien. In einer aktuellen schwedischen Untersuchung an einer Stichprobe von über einer Million Kindern wurde – auch unabhängig vom Sozialstatus der Eltern – bei Kindern aus Einelternfamilien ein mehrfach erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen, Suizidalität, Alkohol- und Drogenkonsum sowie bei Jungen auch eine erhöhte Sterblichkeit gefunden.

Die vorliegenden Untersuchungen lassen sicher keine Generalisierungen zu. Viele alleinerziehende Frauen kommen mit ihrer Situation gut zurecht. Aber die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes wird – trotz der genannten Befunde – noch zu wenig erkannt.

Wie können Familien und Kinder, denen die Väter abhanden zu kommen drohen, unterstützt werden?

Der Mangel an Männern in Kindergarten und Grundschule ist für die Identifikationsbedürfnisse und die männliche Rollenfindung besonders von vaterlos aufwachsenden Jungen und wahrscheinlich auch für deren späteres Frauenbild von Nachteil. Die eingangs genannten, medial präsentierten, häufig destruktiven Männerbilder können dieses Defizit sicher nicht ausgleichen. Von daher würde eine stärkere personale Präsenz männlicher Erzieher und Lehrer in Kindergärten und Grundschulen eine sichere männliche Rollenfindung fördern.

Darüber hinaus sollten junge Eltern fundierte Informations- und Übungsangebote erhalten und mit den grundlegenden Bindungs- und Entwicklungsbedürfnissen ihrer Kinder intensiv vertraut gemacht werden („Elternschule“). Dies könnte beispielsweise bereits in Geburtskliniken routinemäßig für besonders belastete Eltern angeboten werden.

Jugendliche und junge Erwachsene sollten in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen aufgeklärt werden über mögliche Konfliktpotenziale zwischen Männern und Frauen, unterschiedliche Erwartungen und Bedürfnisse sowie über die enorme Langzeitverantwortung von Eltern. Entsprechende Unterrichtseinheiten („Beziehungslehre“) müssten in Lehrplänen und Lehrerweiterbildungsmaßnahmen ebenso berücksichtigt werden.

Trennungswillige Paare sollten sich obligatorisch im Interesse des Kindes beraten lassen, entsprechende Angebote existieren bereits im Rahmen der Mediation. Das elterliche Sorgerecht sollte im Scheidungsfalle nach Möglichkeit gemeinsam beiden Eltern zugesprochen werden. Spezielle Beratungs- und Hilfsangebote müssten stark belasteten Alleinerziehenden und ihren Kindern aktiv angeboten und gegebenenfalls mit materieller Unterstützung verknüpft werden. Diese Mütter und ihre Kinder könnten bereits in Kindergärten, im Rahmen kinderärztlicher Routineuntersuchungen oder in der Schuleignungsuntersuchung identifiziert werden und spezielle Beratungs- und Unterstützungsangebote erhalten. Im Rahmen der Düsseldorfer Alleinerziehendenstudie wurde ein entsprechendes Gruppenprogramm zur Unterstützung alleinerziehender Mütter erfolgreich erprobt. Es wird nach wissenschaftlicher Evaluation nun erstmalig in den Kindergärten der Stadt eingeführt.

Darüber hinaus erscheint im Bedarfsfall eine Stabilisierung des sozialen Umfeldes – durch eine weitere zuverlässige Bezugsperson (zum Beispiel ehrenamtlich tätige, qualifizierte Frauen in „Großmutterfunktion“) für das Kind und die alleinerziehende Mutter ebenfalls sinnvoll.
Die breite Einführung derartiger Unterstützungsstrukturen bedeutet natürlich eine gesellschaftliche Neuausrichtung am Kindeswohl. Und sofort stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit und Rendite. In einer Gesellschaft, in der die Notwendigkeit fester zwischenmenschlicher Bindungen als Voraussetzung jeglicher Produktivität immer weniger erkannt wird, verlieren die Menschen aber langfristig gerade die persönlichen Beziehungen, die sie brauchen, um zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen seelisch ertragen zu können. Der Schritt von der Flexibilisierung identitätsstiftender Bezüge hin zur sozialen Desintegration ist dann nicht mehr sehr groß.

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